16 VOR View RSS

Das Trierer Stadtmagazin
Hide details



„Es war nötig, gut und richtig!“ 19 Mar 2023 2:57 AM (2 years ago)

Christian Jöricke und Marcus Stölb kurz nach der 16 VOR-Gründung 2007. Foto: Johannes Hillje

16 VOR war wenige Wochen online, da erschien ein neues Buch über die Geschichte der ältesten Stadt Deutschlands: „Trier wurde vermutlich im Jahre 17 v. Chr. gegründet, schrieben die Autoren. Stand am Anfang des damals noch neuen Trierer Stadtmagazins ein Recherchefehler? Fakt ist: Heute vor 16 Jahren startete 16 VOR. Anlass für die beiden Macher Christian Jöricke und Marcus Stölb, gemeinsam zurückzublicken. An welche Geschichten erinnern sie sich gerne und welche hätten sie besser nie geschrieben? Wie war das Verhältnis zum Trierischen Volksfreund und was würden sie heute anders machen? Ein Gespräch über Shitstorms und Käsekuchen, missglückte Formulierungen und missverstandene Porträts, und einen Aprilscherz, der es in die Süddeutsche schaffte.

Wenn du auf die Zeit von und mit 16 VOR zurückblickst – welche Erinnerungen und Erfahrungen verbindest du vor allem mit diesem Projekt?

Marcus Stölb: Es war unheimlich toll zu erleben, welche Resonanz wir mit unserem Ansatz, lokalen Qualitätsjournalismus zu bieten, erzielen konnten. Und es gehört für mich bis heute zu den schönsten Erfahrungen überhaupt, zu beobachten, was aus einigen unserer damaligen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geworden ist. Wir hatten das Riesenglück, viele junge Menschen mit journalistischem Talent und einer großen Portion Idealismus und Leidenschaft an unserer Seite zu haben.

Christian Jöricke: Als journalistisch tätiger Mensch ist es vielleicht das Größte, sein eigenes Medium zu haben. Man hat zwar viel Verantwortung für sein Tun, aber auch viele Freiheiten. So kann man sich die Themen aussuchen, auf die man am meisten Lust hat oder die einen besonders interessieren. Die gemeinsame Redaktionsleitung mit Marcus war ideal – nicht nur, weil wir uns bestens verstanden haben, sondern weil wir völlig unterschiedliche Interessen und Qualitäten haben. So hat keiner dem anderen viel hereingeredet. Es hat lange gedauert, bis man einigermaßen von den Einnahmen leben konnte, aber bei mir hat der Idealismus, die – sogar überregionale – Resonanz und der Spaß am eigenen Medium bis zum Schluss für ausreichend Motivation gesorgt. Sehr gerne denke ich auch an unsere wöchentliche Themenplanung im Café Momo zurück. Dabei müssen hunderte Stücke Kuchen verzehrt worden sein.

Marcus: Das stimmt, an Sinas veganen Käsekuchen denke ich auch gerne zurück. Und in der Tat: Wir waren ein Dreamteam, gerade weil du und ich so unterschiedlich waren und sind. Ohne dich hätte ich auch nicht so lange durchgehalten! Immerhin waren es bei mir am Ende sieben Jahre.

Auf welche Geschichten bist du heute noch stolz und erinnerst du dich gerne zurück?

Christian: Ich freue mich, wenn Formulierungen besonders schön geraten und ein insgesamt runder Text entsteht. Stolz bin ich auf Interviews mit interessanten Menschen und gelungene Rezensionen. Als Erstes kommt mir die Konzertkritik „Zerfall eines Denkmals“ über James Last in den Sinn – ein früher Artikel auf 16 VOR im Jahr 2007. Es gab weit über 100 Leserbriefe dazu, in denen mich Fans beschimpften und zum Teil meinten, ich solle nicht über Künstler schreiben, wenn ich nicht deren Anhänger sei. Ein bemerkenswertes Journalismusverständnis. Zudem erkannte keiner von ihnen, dass ich ihr Idol für sein früheres Schaffen sehr lobte, und lediglich bedauerte, dass es seinen Zenit überschritten hatte. In Erinnerung geblieben ist auch die Berichterstattung über Antenne West, über deren finanzielle Schieflage wir als Erstes berichteten. Investigativer Journalismus ist nicht meine Stärke, aber an den Informationen in den Beiträgen gab es nichts zu rütteln. Auch eine einstweilige Verfügung und persönliche Beleidigungen des damaligen Verantwortlichen konnten weitere Artikel nicht verhindern.

Marcus: An eine Geschichte denke ich besonders gerne zurück: „Habemus Stephan: Ackermann wird Bischof“. Wir hatten das quasi weltexklusiv, nicht einmal der seinerzeitige Sprecher des Bistums hatte vor mir Kenntnis von dieser ja doch wichtigen Personalie, wie ich im Nachhinein erfuhr. Viele haben mich gefragt, woher ich vorab die Erstinfo hatte. Nur soviel: Ich bekam am Vorabend der Verkündung eine SMS aus einem außereuropäischen Land, also nicht aus dem Vatikan. Eine Exklusiv-Story, auf die ich lieber verzichtet hätte, war der erstmalige Antritt der NPD bei einer Trierer Stadtratswahl. Deutlich lustiger waren da schon die Spätfolgen meines Aprilscherzes 2013: Ich hatte geschrieben, Bischof Ackermann eifere dem neuen Papst in Sachen Bescheidenheit nach und ziehe vom Bischofspalais in den Glockenturm von St. Gangolf. Gut sechs Monate später berichtete die Süddeutsche Zeitung in ihrer Online-Ausgabe über den angeblichen Umzug. Ich habe aber die SZ-Redaktion direkt darüber informiert, dass sie bei ihrer oberflächlichen Internet-Recherche einem Aprilscherz aufgesessen war. So wurde die Fake-News zumindest nie gedruckt!

Gibt es Berichte, von denen du heute sagen würdest, dass sie keine journalistischen Glanzleistungen waren oder die du vielleicht sogar bereust?

Marcus: Irgendwer hat einmal gesagt, dass Journalisten Menschen sind, die hinterher schon immer vorher alles besser gewusst haben wollen. Da ist was dran, sozusagen eine Berufskrankheit. Was ich selbstkritisch sagen muss: Ich war nie naiv und mir war immer bewusst, dass man als Journalist stets Gefahr läuft, instrumentalisiert zu werden; dennoch war meine Berichterstattung hin und wieder zu sehr von persönlichen Sympathien gesteuert und lag ich mit meiner Einschätzung, etwa was die Fähigkeit von Bewerbern für hohe Ämter anbelangt, grandios daneben. Mein Anspruch war es immer, bei der Sache zu bleiben und auch den Menschen, die ich sehr kritisch sah, fair zu begegnen. Ich denke, das ist mir meist gelungen. Aber ich machte auch die Erfahrung, dass manche Formulierungen vollkommen missverstanden wurden. Als ich in einem Porträt über den damaligen CDU-Landtagsabgeordneten schrieb, dass dessen Herz vor allem für seine Wurstküche schlage, kam das bei ihm und seinen Parteifreunden denkbar schlecht an und wurde mir als Herablassung ausgelegt. Dabei war es absolut wertschätzend gemeint, sozusagen von Bäckersohn an Metzgermeister.

Christian: Auf Anhieb fällt mir ein Artikel über einen unkonventionellen Trierer Catering-Service ein, der allerdings bei den Kollegen von hunderttausend.de erschien. Darin benutzte ich die Formulierung „verantwortlich zeichnen“ mit Reflexivpronomen. Dafür könnte ich heute noch im Boden versinken. Gewiss würde ich einige Artikel heute anders schreiben, aber erstaunlich viele lesen sich immer noch ganz okay.

16 VOR war seinerzeit angetreten, eine Alternative zu den damals bereits etablierten Medien, allen voran den Trierischen Volksfreund zu bieten. Wie stark war eure Arbeit von diesem Konkurrenzdenken geprägt und wie nahmt ihr den Wettbewerb damals war?

Christian: Wenn die Geschäftsleitung oder die Chefredaktion des Volksfreunds klug gewesen wäre, hätte sie Marcus gleich zu Beginn für viel Geld abgeworben. In dessen Lokalredaktion konnte ihm nicht nur in Bezug auf seine Kenntnisse kaum jemand das Wasser reichen. Somit konnten wir es in diesem Bereich qualitativ mit dem TV aufnehmen. Und wir hatten sehr gute Leute im Kulturressort. Das Feedback und die Anerkennung waren herausragend – hinter der Hand auch von Führungspersonen des TV. Auch wenn 16 VOR jahrelang im Blatt nicht erwähnt werden durfte.

Marcus: Natürlich gab es diesen Wettbewerb um die exklusive News, und es war ein klasse Gefühl, wenn wir tatsächlich die ersten waren. Aber es war mir immer klar, dass uns dies nur manchmal gelingen konnte. Ich denke, mindestens acht von zehn journalistischen Kolleginnen und Kollegen lasen 16 VOR, und mit fast allen verstand und verstehe ich mich bis heute gut. Offenbar war man aber vor allem an der Spitze des TV „not amused“ über unsere Existenz. Vom damaligen Chefredakteur ist der Satz überliefert: „Stölb und Jöricke schreiben keine Zeile mehr für den TV!“ Ob der Satz tatsächlich so gefallen ist, weiß ich nicht – gepasst hätte er zu diesem Mann; das Verhältnis zum TV entspannte sich mit einer neuen Chefredakteurin, und der leider viel zu früh verstorbene Leitende Redakteur, Dieter Lintz, war sogar ein bekennender Fan von 16 VOR. Das rechne ich ihm bis heute hoch an!

Gesetzt den Fall, wir schrieben heute den 18. März 2007, also den Tag vor dem Start – würdest du 16 VOR wieder machen?

Christian: Ja, es war nötig, gut und richtig. Angesichts der Entwicklung der hiesigen Medien in den vergangenen Jahren wäre es heute sogar noch wichtiger.

Marcus: Diese Frage ist hypothetisch. Was ich sagen kann: 16 VOR gemeinsam mit Christian zu gründen, war eine der besten Entscheidungen meines Lebens; vielleicht nur noch übertroffen von der, mich bei der Deutschen Journalistenschule in München zu bewerben, und vor allem jener, mit meiner wunderbaren Partnerin und ihren fantastischen Kindern sowie unserem Kater zusammenzuziehen!

Der Cartoon erschien zum fünften Jubiläum. Illustration: Jimi Berlin

Rückblickend betrachtet: Was würdet ihr heute anders machen mit dem Wissen, das ihr während der Jahre von 16 VOR sammeln konntet?

Marcus: Wir hätten jemanden mit ins Boot nehmen müssen, der den kaufmännischen Part übernimmt und 16 VOR auch wirtschaftlich zum Laufen bringt. Außerdem hätten wir von Beginn an unsere Berichterstattung auf Wochentage beschränken müssen – so waren wir über Jahre quasi sieben Tage die Woche aktiv. Das fiel mir anfangs nicht schwer, da Christian und ich für unser „Baby“ brannten. Aber mit der Zeit und dem Ausbleiben des wirtschaftlichen Erfolgs wurde es doch zum Problem. Idealismus hin oder her – irgendwann will man etwas für seine Arbeit bekommen. Was ich rückblickend auch bedauere – dass wir relativ spät mit unserem Förderverein 16 VORliebe starteten. Das hätte nach ein oder zwei Jahren passieren müssen, als sich viele unserer Leserinnen und Leser noch nicht daran gewöhnt hatten, dass wir gratis Qualitätsjournalismus lieferten.

Christian: Wie Marcus sagt, hätten wir gleich zu Beginn einen Anzeigenprofi benötigt. Wie wichtig das ist, merkte ich, als ich das Printmagazin herausgab. Mir fehlte die Zeit, vernünftig Akquise zu betreiben. Das hat mich sehr viel Geld gekostet.

Aus den Reihen eures damaligen 16 VOR-Teams haben heute einige journalistisch und literarisch großen Erfolg – etwa als Bestsellerautor oder Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, oder auch als Politikberater in Berlin. Welchen Anteil hatte 16 VOR daran?

Marcus: Natürlich macht es stolz zu sehen, dass der eine auf Lesereise durch die Republik tourt und die andere für die beste Tageszeitung Deutschlands schreibt. Aber ich würde unseren Anteil daran nicht überbewerten. Unser Beitrag bestand vor allem darin, diesen Talenten eine erste Möglichkeit zu geben, sich journalistisch zu versuchen und sie in ihrer Leidenschaft zu bestärken.

Christian: Was 16 VOR auszeichnete, war der hohe Anspruch. Vielleicht hat das den einen oder die andere geprägt. Wenn jemand das Talent zum Schreiben hat UND stets das Beste bieten möchte, kann man es auch weit schaffen.

Wenn 16 VOR heute noch wie damals existierte – welcher Artikel müsste aus eurer Sicht noch unbedingt geschrieben werden?

Christian: Ich bin nicht mehr ganz nah am Geschehen dran. Spontan würde ich mich wahrscheinlich der Entwicklung der Trierer Eintracht widmen.

Marcus: Ich würde noch einmal dem Fall Tanja Gräff aufgreifen. Für mich ist es bis heute unfassbar, dass die Ermittler die tote Studentin an dem Ort, an dem ihre sterblichen Überreste schließlich Jahre später aufgefunden wurden, nicht unmittelbar nach ihrem Verschwinden fanden. Was man den Eltern und Freunden von Tanja Gräff damit angetan hat, diese Jahre der Ungewissheit, ist ein Skandal. Ob es tatsächlich „nur“ ein Unglücksfall war und wirklich niemand Zeuge wurde, als Tanja in die Tiefe stürzte? Da habe ich nach wie vor meine Zweifel.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Volle Fahrt 26 Jan 2020 8:28 AM (5 years ago)

Fahrgäste im RömerexpressParis hat die Metro, Wien die Fiaker-Kutschen und San Francisco die Cable Cars. Trier hat den Römer-Express. Dieses Bimmelbähnchen sieht aus wie eine ungeplante Kreuzung aus Lukas’ und Jim Knopfs „Emma“ und „Thomas“, der kleinen Lokomotive. Der Römer-Express ist sozusagen die Promenadenmischung unter den Märchenlokomotiven.

„Bist du schon mit dem Römer-Express gefahren?“, frage ich den Herrmann.
„Kein Trierer fährt mit diesem Bähnchen.“
„Wieso nicht? Ist man in Trier nicht froh, dass hier überhaupt noch Züge verkehren?“
„Trierer fahren nicht mit dem Römer-Express“, bleibt der Herrmann ernst, „weil sie die Fahrtstrecke kennen.“
„Was soll das denn heißen?“
„Du hast es so gewollt. Komm mit!“

Kurz darauf stehen wir vor der Porta an der Römer-Express-Haltestelle, und aus Herrmanns Gesicht lese ich, dass wir nicht zum Spaß hier sind. „Für neun Euro pro Person“, versucht er mich zu warnen, „sehen wir in 35 Minuten Fahrt zwei Tankstellen, mehrere Hauptverkehrsstraßen, ein Krankenhaus sowie diverse Burger-Restaurants.“

Schäden im RömerexpressUnd wer sagt, dass das keinen Spaß machen kann? Wir sitzen im letzten Express-Wägelchen ganz hinten, wo es durch eine undichte Stelle reinregnet. Die Plexiglasscheiben haben schon bessere Zeiten gesehen und fügen sich wunderbar in das Antiken-Design der Umgebung ein. Überhaupt macht die Bimmelbahn von innen den Eindruck, als stamme sie aus der Römerzeit. Nein, das ist ungerecht. Die meisten Römerbauten in Trier befinden sich in einem besseren Zustand als diese Dieselruine auf Rädern. In der Sitzlehne vor uns sehe ich ein faustgroßes Loch, und überhaupt lassen etliche ramponierte Stellen in der Innenverkleidung die – sicherlich falsche – Vermutung aufkeimen, hier habe ein Kegelklub aus dem Nordsaarland oder der Südeifel randaliert.

Dennoch ist die Stimmung bestens. Und das, obwohl keine Kinder mitfahren, sondern ausschließlich erwachsene Paare (vielleicht verströmt der Römer-Express eine romantische Aura, die Herrmann und ich bisher nicht wahrgenommen haben).

Ich hatte angenommen, der Römer-Express sei ein Vergnügen, das man den Kleinen gönnt, wenn man sowieso in Trier ist. Aber in unserem Abteil sind, wie gesagt, nur gutgelaunte Erwachsene, die aufgeregt durcheinanderreden. Wir hören Saarländisch, Pfälzisch, Sächsisch, sogar Hochdeutsch, Niederländisch und Englisch. Letztere drei Sprachen plärren auch aus den Lautsprechern. Während der Fahrt werden Erläuterungen zunächst in Deutsch eingespielt, dann folgt, leicht gekürzt, die niederländische Ansage, und schließlich gibt es noch eine Ultrakurzversion auf Englisch.

In der Praxis sieht das so aus, dass während der Vorbeifahrt an der Porta dieselbe auf Deutsch kommentiert wird. Die holländischen Fahrgäste müssen sich schon nach dem römischen Stadttor umschauen, wenn sie sehen wollen, wo sie eben vorbeigekommen sind. Und dann bleibt, wenn der Express fast schon in die Sichelstraße einbiegt, kaum noch Zeit, auf Englisch nachzuschieben, was diejenigen gerade verpasst haben, die nur die Weltsprache verstehen. Manchmal wechselt bei den fremdländischen Kommentaren die Reihenfolge, ich habe jedoch den Eindruck, dass die englischen Kurzfassungen stets noch kürzer sind als die niederländischen.

Als Trierer freut sich der Herrmann darüber, einmal in Ruhe an der „Blauen Lagune“, der berühmtesten Trierer Tankstelle, vorbeikutschiert zu werden. Wann fährt man schon mal, wenn man mit dem Auto unterwegs ist, im Schritttempo an der Schellenmauer vorbei Richtung Meerkatz und Roten Turm (vielleicht sagen Sie jetzt: während der Hauptverkehrszeiten eigentlich immer; aber dann müssen Sie sich auf die anderen Stauteilnehmer konzentrieren und können nicht entspannt den Blick schweifen lassen).

Sobald wir auf den Domfreihof fahren, ertönen aus unserem Abteil „Oohs“ und „Aahs“ in verschiedenen Akzenten, vermutlich weil alle denken, ab jetzt ginge die Fahrt durch die historische Altstadt. Aber der Römer-Express wendet und zeigt, nachdem Weberbachstraße und Südallee passiert wurden, dass Trier mehr zu bieten hat als Römerbauten und Kathedralen: nämlich eine große Durchgangsstraße direkt an der Mosel. Schade, dass man von dort, wo wir entlangfahren, die nur wenige Meter entfernte Mosel nicht sehen können. Auf der weiteren Fahrt erfahren wir (auf Deutsch, Englisch und Niederländisch), was wir bei dieser Tour sonst noch verpassen: Leider dürfen wir mit dem Bähnchen nicht auf den Hauptmarkt und zu Sankt Gangolf (dessen Turm wir im Vorbeifahren immerhin über den Dächern herausragen sehen). Vom Tonband wird uns dringend empfohlen, sich den Hauptmarkt nach Fahrtende noch zu Fuß anzusehen, ebenso wie die gar nicht weit entfernte Paulinkirche.

Römerexpress von außenInzwischen reicht das holländische Ehepaar eine Flasche Genever herum, was bei den Briten und den Pfälzern offensichtlich ein weitaus größeres Interesse hervorruft, als die durch den Lautsprecher verkündete Tatsache, dass Trier um 1848 eine Hochburg der Radikalen war (der damalige preußische Oberpräsident nannte Trier „den schlimmsten Punkt der Provinz“). Diese Information geht, da nun auch das sächsische Paar den hochprozentigen Genever kostet, genauso unter wie die unerwähnt bleibende Tatsache, dass wir gar nicht arg weit entfernt an der umstrittenen bronzenen Marx-Statue vorbeifahren. Als der Genever zum zweiten Mal die Runde durchs ramponierte Abteil macht, ist die Stimmung, und mit ihr die positive Wahrnehmung der alten Römerstadt, allerbestens.

Als wir schließlich wieder an der Porta vorfahren, wo die nächsten Fahrgäste warten, haben sich die Holländer mit den Briten zum Mittagessen verabredet. Die Saarländer schließen sich, obwohl sie erst kurz vor der Rundfahrt das zweite Frühstück inklusive Weinprobe hinter sich gebracht hatten, der internationalen Gruppe an. Die Pfälzer und Sachsen beschließen, die auf der Römer-Express-Tour empfohlenen Sehenswürdigkeiten, die man nur per pedes erreicht, gemeinsam zu erkunden. Und so verwundert es nicht, dass die nächsten Römer-Express-Gäste den Eindruck bekommen, dass ihre Vorgänger Spaß gehabt haben auf der Fahrt. Hatten wir ja auch, selbst wenn das nicht unbedingt an der Route, den Lautsprecheransagen oder dem etwas zu üppigen Fahrtpreis liegt. Aber zur lockeren Anbahnung von Erstkontakten mit in- und ausländischen Tagestouristen ist das Trierer Bimmelbähnchen zweifellos ein Geheimtipp.

Nachtrag: Wie der Backes Herrmann mir sagte, gilt die Konzession für den derzeitigen Betreiber nur noch bis Ende April 2020. Ab dem 1. Mai wird der Express dann entweder von den Trierer Stadtwerken auf Tour geschickt, oder es gibt zwei parallele Bähnchen. Egal wer den Römer-Express betreibt und gleich welche Neuerungen ab Sommer 2020 eingeführt werden, eins sollte unbedingt unverändert bleiben: Bitte erlaubt an Bord weiterhin das uneingeschränkte Herumreichen landestypischer Alkoholika!

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

16VORfreude – Die Geschenktipps der Redaktion 19 Dec 2019 7:11 AM (5 years ago)

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

In diesem Jahr stehen selbstgemachte und Wohlfühlgeschenke im Zentrum der 16 VOR-Geschenktipps. Sollten Sie davon nicht so begeistert schauen wie der Herr im Bild: Hier finden Sie auch die Empfehlungen der vergangenen Jahre.

Teresa Habild: Upcycling

Nachhaltig, fair, kreativ, regional: Die Königin aller Geschenke ist nicht nur für die Fridays-for-Future-Generation das selbstgemachte Präsent. Die Möglichkeiten hierfür sind schier grenzenlos: Mit etwas Geschick und Fantasie lässt sich aus allem etwas Praktisches oder Witziges neu erschaffen – sei es der alte Fahrradschlauch, das zerbrochene Werkzeug oder die lästige Wurfsendung. Wem es immer noch an Ideen fehlt, der möge sich in den Weiten des Internetzes inspirieren lassen (z. B. hier). Oder erst mal ein Glas Sauerkirschen aus verblichenen Sommertagen verputzen. So man damals zu faul zum Entsteinen war, kann man jetzt in Nullkommanix und mithilfe eines Waschlappens Kirschkernkissen für seine frostbeulengeplagten Liebsten zaubern.

Sollten die Hände vom eifrigen Werkeln allzu arg in Mitleidenschaft gezogen werden, schafft selbstgemachte Handcreme im Nu Abhilfe: Kokosöl (als Superfood inzwischen in jedem Discounter erhältlich) und Sheabutter (aus Apotheke oder Afrika-Shop) zu gleichen Teilen im Wasserbad schmelzen, verrühren, abkühlen lassen und in saubere Einmachgläser füllen – fertig ist das Wundermittel für spröde, trockene Winterhaut.

Und wer vor lauter Weihnachtsbastelei keine Zeit mehr für die eigene Weihnachtsbäckerei findet, dem sei ein Abstecher zur Bäckerei Benz in der Paulinstraße ans Herz gelegt. Hier wird die Marzipanmasse so originell von Hand geformt, dass nach Ende der Weihnachtszeit das frohlockende Engelchen mühelos als Sexdoll im Puppenstübchen weiterverwendet werden kann.

Christian Jöricke: Nützliche Miniaturimmobilien

Die industrielle Landwirtschaft führt zu Insektensterben. Auch wer nur einen Balkon hat, kann dem entgegenwirken: mit der Installation eines Insektenhotels. Die gibt es inzwischen in vielen Größen und Preiskategorien. Teresa Habild (s. o.) hat in Kooperation mit der Lebenshilfe Trier e. V. Insektenhotels in Form der Porta Nigra gebaut. „Großes 3-Etagen-Insektenhotel mit zahlreichen Nistmöglichkeiten. Brutröhren und Nistlöcher in verschiedenen Größen für alle heimischen Wildbienenarten. Die obere Etage (gefüllt mit Holzwolle) bietet Unterschlupf für Marienkäfer und Co“, heißt es in der Produktbeschreibung.

Ebenfalls mit lokalem Bezug, gut für Insekten und auch für den Balkon geeignet sind Habilds Öko-Pflanztöpfchen in den Sorten „Helenas Blütenpracht“ und „Sonne aus Trier“.

Der komische Kauz (rechts) im Bild ist übrigens die schottische Uhu-Dame Hazel. Uhus sind auch insektenfreundlich. Sie ernähren sich in erster Linie von kleinen bis mittelgroßen Säugern und Vögeln.

Michael Juchmes: Einreiben und runterkommen

Die einen schwören auf Johanniskraut, die anderen auf Hopfen. Meine Lieblingspflanze, um runterzukommen, ist jedoch Lavendel; und das nicht etwa in Form von Tee, sondern als Duschgel und Bodylotion. Das perfekte Geschenk für vom Feiertagswahnsinn Geplagte ist meiner Meinung nach daher die Serie „Sleepy“ von Lush.

Das britische Beauty-Unternehmen verzichtet nicht nur komplett auf Tierversuche, sondern bemüht sich auch – und das wird die kleine Greta in uns freuen –, auf Palmöl und Kunststoffverpackungen zu verzichten. Das Duschgel „Sleepy“ ist deshalb nicht nur in flüssiger, sondern auch in fester Form erhältlich. Ein echter Knaller ist jedoch die gleichnamige Bodylotion, die – so verheißen manche Kundenrezensionen im Netz – als Einschlafhilfe beste Dienste leisten soll. Sie passt hervorragend zu holzig-floralen Düften für Sie und Ihn (hier empfehle ich als Ergänzung das Eau de Toilette „Eau de cedre“ von Armani; selten habe ich für meinen olfaktorischen Eindruck so viele Komplimente an einem Tag gehört).

Die gesamte Serie ist in den Lush-Shops in Luxemburg-Stadt erhältlich. Wer jetzt „Ich bin doch nicht verrückt und fahre vor Weihnachten auch noch dahin!“ denkt, den kann ich beruhigen: In der Dependance im neuen Shopping-Center Cloche d’Or geht es derzeit noch äußerst entspannt zu. Im riesigen Konsumtempel im Süden der Hauptstadt kann man die Kunden häufig noch an zwei Händen abzählen.

Bettina Leuchtenberg: Die egoistische Socke

Seien wir ehrlich: Wir haben alles und das im schlimmsten Fall im Überfluss. Den 21. Kerzenhalter können wir nicht mehr unterbringen, Haushaltsgeräte sind ein No-Go und Weihnachtspullis kommen wegen fragwürdiger Herkunft und fehlender Rohstoffqualität in Form von 100% Polyester erst recht nicht in Frage.

Hinzu kommt – die meisten Wünsche erfüllen wir uns selbst. Oder noch verzwickter: Wir äußern einen Wunsch, und man hat überhaupt nicht die Gelegenheit, sich an der Vorfreude zu ergötzen, weil die Liebsten ihn einfach so, direkt und geradeheraus erfüllen. Das Schenken ist also durchaus tricky, wie der Philosoph Wilhelm Schmid ausführt.

Ich verschenke, was mir guttut. Denn mir macht es Freude, nach einem ganzen Tag am Bildschirm, wo ich berufsbedingt Texte schreibe, redigiere, bearbeite und korrigiere, etwas anderes zu sehen als helle Hintergründe und Buchstaben. Und auch die Haptik von weicher Wolle ist nach der kühlen Tastatur eine reine Wohltat. Dabei höre ich liebend gerne Musik, Hörbücher und Podcasts. Oder denke an die, für die ich handwerke, an gemeinsame Momente und zukünftige Zeiten. Das Ergebnis sind Socken in bester Wollqualität: aus tausenden Maschen voller Liebe, Freude und Wohlgefallen.

Frank P. Meyer: Zehnerkarte

Ich schenke dem Backes Herrmann eine Zehnerkarte. Die Frage ist nur noch: Zehnerkarte wofür? Karl-Marx-Museum? Craft-Beer? Den Römer-Express? Nee, dafür gibt’s gar keine Zehnerkarten (noch nicht; vielleicht wären das schon Verbesserungsvorschläge für 2020). Außerdem sollte es, bei Herrmanns fortschreitendem Alter, eher etwas aus dem Well- und Fitnessbereich sein. Also eher Sauna, Thai-Massage oder Nagelstudio? Ich hab’s: Er kriegt ’ne Zehnerkarte fürs Nordbad. Da hat man doch was! Und er muss nicht gleich mit der körperlichen Betätigung loslegen, sondern kann sich noch ein halbes Jahr mental darauf vorbereiten. So wird er im Mai, wenn die Badesaison losgeht, an das tolle Weihnachtsgeschenk erinnert. Das nenne ich Nachhaltigkeit.

Und wieso ausgerechnet das Nordbad? Zum einen, weil das Schwimmbecken 2020 zum allerletzten Mal in seinem nostalgischen Freibadblau erstrahlt. Und zum anderen, weil direkt gegenüber der Herrenumkleidekabine an die Wand geschrieben steht, was ich dem Herrmann und allen Trierern wünsche: „Träume nicht dein Leben sondern lebe deinen Traum.“

Hier geht es zu den Geschenktipps 2018.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Shades of Blue 30 Sep 2019 8:59 AM (5 years ago)

Wo gibt es das blaueste Wasser der Welt? Malediven? Dom Rep? Unsinn! Das blaueste Blau findet ihr im Trierer Nordbad.

Eigentlich war es eine gute Idee vom Backes Herrmann: „Lass uns mal schwimmen gehen, bevor der Sommer vorbei ist.“ Aber muss das wirklich morgens um acht sein? Und ich habe noch Glück, dass der Herrmann nicht schon um sechs da sein wollte. Dann öffnet nämlich das Nordbad. Um acht haben die Frühschwimmer bereits 30 Bahnen gezogen – das ist gefühlt die Strecke von der Römerbrücke bis Konz.

Offensichtlich erwartet man um diese Uhrzeit im Nordbad keine Nicht-Stammschwimmer, jedenfalls ist die Kasse unbesetzt. Aber wir trauen uns nicht, ohne zu bezahlen, reinzugehen. Am Tisch hinter der Kasse sitzen kaffeetrinkende Frauen, die ihr Schwimmpensum schon hinter sich haben. Sie mustern uns wie Türsteher eines exklusiven Clubs. Wirken wir cool genug für bettflüchtige Frühsportler? Anscheinend ja. Eine der Badeanstaltsbenutzerinnen ruft: „Moooniii, Kundschaft“, dann nippt sie weiter an ihrem Kaffee.

Moni taucht von irgendwo aus dem Umkleidebereich auf und fragt, ob wir zum ersten Mal hier seien. Sieht man das so deutlich? Sie zeigt uns den Weg zur Herren-Sammelumkleide. Oder heißt es „Sammel-Herrenumkleide“? Jedenfalls steht man, sobald man umgekleidet ist, vor einer Wand, auf der in verschnörkelter Schrift zu lesen ist: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“.

„Recht haben die“, meine ich zum Herrmann und will umkehren, um mich wieder anzuziehen, denn ich träume nicht davon, in aller Herrgottsfrühe nach Konz zu schwimmen. Aber der Herrmann überzeugt mich, es wenigstens zu probieren.

Zuerst gehen wir die Treppe hoch zum Bistro. Vielleicht hat das schon geöffnet, dann könnte man sich mit einem Bier Mut antrinken. Aber keine Chance für Frühtrinker. Betrieb ist um diese Zeit nur im Wasser. Der Blick von der Bistro-Terrasse entschädigt jedoch für den Aufstieg. Rechts sehen wir das schmutzige Blau der Mosel, darüber einen Azurhimmel mit weißen Wölkchen, und links das kristallklare Mehr-als-Malediven-Dom-Rep-Blau des Schwimmerbeckens.

Auf einer Holzbank am Beckenrand haben einige Silberhaarige, die für ihr Alter figürlich recht gut beieinander sind, ein üppiges Frühstück ausgebreitet: mit Brötchen, hartgekochten Eiern, Rohessern, Salami und Kaffee. Ich bilde mir ein, aus dem ein oder anderen Rucksack ein Dosenbier herausragen zu sehen. Ein echtes Nordbad-Frühstück für Herren über … für Herren, die morgens um sechs schwimmen gehen und danach Zeit haben, fürstlich zu frühstücken (so formuliert klingt das nach einer Lebensphase, vor der man sich nicht fürchten muss). Ich frage den Herrmann, warum wir nicht so ein Frühstück mitgebracht haben, aber er meint, er wolle Sport treiben, um abzunehmen. Ich schaue auf die reich gedeckte Beckenrandbank und schätze, dass man tatsächlich 30 Bahnen schwimmen muss, um in der Kalorienbilanz auf eine schwarze Null zu kommen.

In der kühlen Morgenluft beginnen wir zu frösteln. Vom Beckenrand aus wirkt das blaueste Blau doch recht kühl, und man schaut uns schon argwöhnisch an. Also ist es am besten, es endlich hinter uns zu bringen. Wir duschen uns ab und … wissen nicht, wo wir eigentlich ins Wasserbecken einsteigen sollen. Die gut tausend Quadratmeter große Wasserfläche ist nämlich in vier Bereiche aufgeteilt, und uns ist klar, dass wir nicht einfach irgendwo reindürfen. Das Schwimmbecken ist ein harmonisch funktionierender Mikrokosmos: rechts drei abgegrenzte Bahnen, zum vierten Teil kommen wir später.

Ein kurzer Blick verrät: Wer die äußere Bahn benutzt, ist nicht zum Spaß hier. Es wird gekrault – und das erschreckend zügig. Diesen Bereich sollten wir meiden. Die Schwimmer dieser Bahn haben ihr Revier markiert. Keine Bange, das bedeutet nicht, dass sie ins Becken gepinkelt haben. Die kraulen aber so selbstbewusst, dass uns klar ist: auf der Bahn würden wir uns blamieren.

Auch die Benutzer der zweiten Bahn gehören eindeutig zur Kategorie Wir-meinen-es-ernst-Schwimmer, aber sie sind nicht so schnell unterwegs wie die ganz rechts. Und auf der dritten Bahn schwimmen die, die nicht kraulen können, sondern brust- oder rückenschwimmend vorankommen und von der Römerbrücke bis Konz einen halben Tag brauchen. Aber auch ihnen sieht man an: Sie werden diese Strecke bewältigen. In allen drei Bahnen geht es erfreulich unaggressiv zu. Man nimmt Rücksicht aufeinander und überholt bei Bedarf, ohne dabei übertrainiert zu wirken.

Herrmann und ich entscheiden uns schließlich für die großflächige vierte Zone, den Bereich der Senkrechtschwimmer oder Stehstrampler. Rasch freunden wir uns mit diesem Schwimmstil an, der im Wesentlichen so funktioniert, dass der Körper senkrecht im Wasser steht, man vorne irgendwie mit den Armen rudert und unten alibimäßig leicht mit den Füßen paddelt. Der Kopf bleibt dabei ständig über Wasser. Ein Mann schwimmt sogar mit einer Sonnenmütze aus Stoff – sie kriegt keinen Tropfen Wasser ab. So schafft man etwa fünf Meter pro Minute. Dieser Stil ermöglicht es, wenn man ihn perfekt beherrscht, beim Schwimmen zu reden.

Die Sprechschwimmer kommen gewöhnlich in Dreier- oder Viererreihen daher, und wenn man in wenigen Metern Abstand entfernt von ihnen stehschwimmt, hört man lauter nützliche Dinge. Nach der ersten geschwommenen Bahn wissen wir zum Beispiel, wie Eintracht Trier es in wenigen Jahren in die 3. Liga schaffen könnte (der SVE-Vereinsvorstand sollte unbedingt mal zum Frühschwimmen gehen), dass es sich lohnt, mit dem City-Skyliner vor der Basilika mal über die Dächer von Trier zu schauen, und dass man sich in der „Martinsklause“ jetzt Flieten vom „Aom Ecken“ rüberbringen lassen kann. Außerdem erfahren wir, bei welchem Metzger man die Fleischeinlage für Gemüseeintopf besorgen sollte (inklusive des kompletten Rezepts), sowie die Gründe, warum Wilma ihre Rückenschmerzen nicht loswird und wieso Günther seine Stelle kündigen sollte. Die besprochenen Personen sind offensichtlich selbst nicht anwesend, sonst würden ihre Schicksale wohl nicht in einer Lautstärke diskutiert werden, dass auch die Wassergymnastiker im Nichtschwimmerbereich alles mitkriegen: „Ich habe ihm schon immer gesagt, das ist nix für ihn…“ oder „… aber auf mich hört sie ja nicht“.

Der Herrmann und ich schwimmen, ohne zu reden. Wir haben genug damit zu tun, den Kopf über Wasser und die Haare trocken zu halten. Wir stehschwimmen noch zwei Bahnen und fühlen uns danach, als wären wir von der Römerbrücke nach Saarburg geschwommen. Sonderbarerweise ist das ein befriedigendes Gefühl. Wir wärmen uns auf der Bistro-Terrasse, wo es immer noch nix zu trinken gibt, in der kräftiger werdenden Morgensonne auf und schauen hinunter auf das blaueste Schwimmbeckenwasser der Welt. Hätten wir jetzt noch Rohesser und Dosenbier dabei, wie die Silberhäupter am Beckenrand, wäre das Leben perfekt. Und ich beginne zu verstehen, dass das mit dem „Lebe deinen Traum“ gar nicht so albern ist, wie ich zuerst dachte. Ich glaube, nächstes Jahr kaufen wir uns eine Dauerkarte und lernen erst mal, beim Schwimmen zu sprechen.

Nachtrag: Apropos nächstes Jahr: Das große Schwimmerbecken wird in absehbarer Zeit renoviert und dabei soll der Anstrich der Beckenfolie, das blaueste Blau, ersetzt werden durch ein zeitgemäßes Edelstahlsilber. Nun gut, das passt immerhin zur Haarfarbe der Frühschwimmer.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

16VORfreude – die Geschenktipps der Redaktion 17 Dec 2018 11:04 PM (6 years ago)

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

Vor allem klassische Geschenke wie Bücher, Parfum, Gutscheine und Kalender empfiehlt in diesem Jahr die Redaktion von 16 VOR. Bis Weihnachten sollte alles noch zu besorgen sein.

Jimi Berlin: Gemeinsam entkommen

Auch dieses Jahr habe ich wieder einen unglaublich megamäßigen Geschenketipp, der das Schenken auf ein neues Niveau hebt und dabei den glühenden Funken des Weihnachtsgedankens in sich trägt, im Kreise seiner Lieben einen draufzumachen: der Live-Escape-Game-Gutschein!

Live Escape Games erfreuen sich weltweit großer Beliebtheit, seitdem ungefähr 2006 die Idee aufkam, Adventure/Escape Games vom Computer in die Realität zu übertragen. In Trier bietet das „It’s A Trap“ am Bahnhofsplatz 8 den Spaß an. Das Prinzip ist so einfach wie spannend und unterhaltsam: Spieler in kleinen Gruppen müssen innerhalb eines bestimmten Szenarios und eines vorgegebenen Zeitlimits Rätsel lösen, um sich aus einem verschlossenen Raum zu befreien.

Dabei gibt es unterschiedliche Schwierigkeitsgrade, Stories und verrückte bis düstere Escape Rooms. Gutscheine für das Real Life Game können online gekauft werden, das ideale Geschenk für Geschenkespätis. Das „It’s A Trap“ ist auch an den Weihnachtsfeiertagen geöffnet – das supertolle Geschenk kann also sofort ausprobiert werden. Altersbeschränkungen gibt es so gut wie keine, sogar die Oma darf mit. Sieben Escape Rooms und ein supernettes Team warten auf furchtlose Rätsellöser.

Christian Jöricke: Gute Laune durch Tiere

Ich mag keine Selfies. Unter anderem, weil die meisten Menschen, die sich mit ihrem Smartphone fotografieren, den gleichen Gesichtsausdruck dabei haben. Den gleichen dümmlichen.

Bei Tieren ist das anders. In den vergangenen drei Jahren sorgte ein Prozess für Aufsehen, in dem die Tierrechtsorganisation Peta im Namen eines Affen Urheberrechte an einem berühmten Tier-Selfie einklagen wollte. Der Makake Naruto hatte selbst ein Bild von sich geschossen, nachdem der Tierfotograf David J. Slater seine Kamera im indonesischen Regenwald kurz unbeobachtet gelassen hatte.

Die Tiere im Terminkalender „Animal Selfies 2019“ von National Geographic haben sich eher nicht selbst fotografiert. Wahrscheinlicher ist, dass ein Fotograf seine Kamera per Fernauslöser betätigte, als sie nah genug vor dem Weitwinkelobjektiv waren. Das Ergebnis ist sehr lustig und sorgt mindestens ein Jahr lang für gute Laune. Gibt es auch als Wandkalender.

Michael Juchmes: Oldie but Goldie

Was duftet gut und kommt von Herzen? Richtig! Mein Geschenk in diesem Jahr. Genauer gesagt, ein Duft aus der Vergangenheit, der Erinnerungen weckt. Denn sind wir doch mal ehrlich: Mittlerweile sind den Parfümeuren die Ideen ausgegangen. Wer das Angebot in Augenschein nimmt, wird von Flankern – so nennt man in Fachkreisen die Neuinterpretation oder Abwandlungen eines Parfüms – mit den Namenszusätzen „Intense“, „Extreme“ oder „Eau Frâiche“ beinahe erschlagen. Diese haben mit den Ursprungsdüften leider wenig am Hut und können keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Dann doch lieber das Original, etwa „Chanel No. 5“ oder „Opium“ von Yves Saint Laurent. Männer freuen sich über „Fahrenheit“ von Dior oder „Le Male“ von Jean Paul Gaultier. Ebenfalls immer willkommen – und auch noch ein netter Hingucker im Bad: „CK One“ von Calvin Klein.

Natürlich sollte das Geschenk auch zum Beschenkten passen. Ein 15-Jähriger hat andere Bedürfnisse als ein 55-Jähriger. Wer Zweifel hat, darf gerne das Fachpersonal zur Hilfe bitten oder sich erst einmal auf eigene Faust durch das Angebot schnuppern. Aber aufgepasst: Mehr als drei oder vier Düfte auf einmal sollte man nicht testen. Selbst die feinste Nase macht irgendwann schlapp.

Bettina Leuchtenberg: Kochen, genießen, Gutes tun

So viel Gutes auf einmal: Mein Geschenktipp macht jeden Monat aufs Neue Freude – mit einem indonesischen Rezept. Die Wahltriererin Anita Hidajat ist in Jakarta geboren und hat als Modedesignerin nicht nur kreative Ideen rund um textile Stoffe. Sie kocht am allerliebsten Gerichte aus ihrer Heimat und hat sie so angepasst, dass sie auch Kindern gut schmecken.

Krönender Abschluss jedes Nähkurses, den sie meiner Tochter und ihren Freundinnen im Teenager-Alter gegeben hat, war das gemeinsame Kochen und Essen. Schon seit langem liebe ich ihre köstlichen Kreationen. Jetzt hat sie zwölf Gerichte verraten, darunter auch ein vegetarisches und ein veganes Mahl. Dank der gut ausgestatteten asiatischen Lebensmittelgeschäfte in Trier ist es auch gar kein Problem, an die Zutaten zu kommen.

Der „Kochkalender 2019“ kostet 18 Euro und ist über das Büro Petrol in Köln erhältlich. Fünf Euro je verkauftem Exemplar spenden die Grafikdesignerinnen, die in Trier studiert haben, für www.aktiongegendenhunger.de.

Frank P. Meyer: Kekse von Kalle

Dem Backes Herrmann schenke ich diesmal eine bleibende Erinnerung an den 200. Geburtstag von Karl Marx: einen Keksausstecher.

Von den unzähligen Karl-Marx-Souvenirs (da ist durchaus Ansprechendes auf dem Markt, vom Bierflaschenöffner bis zur stilvollen Hipster-Tasse) gibt es eins, das die anderen sowohl ästhetisch als auch alltagsgebrauchstechnisch überragt: der Keksausstecher in Form einer Marx-Silhouette.

Der Herrmann wäre der Star auf jeder Anarchisten-Party oder von mir aus auch bei Feten des linken SPD-Flügels, wenn er roteingefärbte Kekse mit dem Profil von Marx mitbrächte. Nun gut, der Herrmann ist jetzt nicht so oft bei Anarchisten zu Besuch (nicht einmal bei der SPD, soviel ich weiß), aber unser Kalle ist ja kompatibel. Zur Not kriegen die Kekse einen fingerdicken Zuckerguss (weiß!) verpasst und gehen dann – spätestens nach dem dritten Glühwein – auch als Weihnachtsmann-Plätzchen durch. Einmal habe ich die Plätzchen (gänzlich ungefärbt) schon bei saarländischen Freunden getestet und die meinten: Cool! Kekse im Bud-Spencer-Profil. Da sieht man mal, wie oft und wie erfolgreich Kalles Seitenansicht kopiert wird. Genau das Richtige für den Herrmann.

Marcus Stölb: Von Null auf Hundert

„Dann lernst du laufen, und dann lernst du leben, und was daraus entsteht, heißt Lebenslauf“, schreibt Erich Kästner in seinem „Brief an meinen Sohn“. Bekanntlich ist das mit dem Laufen lernen für die meisten ein Kinderspiel, derweil das Leben eine Kunst für sich ist.

„Hundert – was du im Leben lernen wirst“ ist kein Ratgeber, und der im Verlag Kein & Aber erschienene Band gibt auch nicht vor zu wissen, was das Leben für einen bereithält. Heike Faller, Redakteurin des ZEIT Magazins, und der Illustrator Valerio Vidali haben vielmehr ein anrührend schönes Buch geschaffen, das mit wenigen Worten auskommt und von seinen wunderbaren Bildern lebt.

„0: „Du lächelst, zum ersten Mal in deinem Leben. Und die anderen lächeln zurück“. „98: Dabei fühlst du dich manchmal wie das Kind, das du einmal warst.“ So blättert der lesende Betrachter und betrachtende Leser hin und her, nach vorne ins Greisendasein, wieder zurück in die Kindheit, und gleicht Buch und eigenes (Er)leben ab: „42: Dafür kannst du jetzt deine eigene Brombeermarmelade machen.“ (Lernte ich erst mit 43, dafür gab’s dann aber obendrein auch Weinbergpfirsich-Marmelade). „43: Und du hast gelernt, für dich zu sein.“ (Konnte ich schon früher und bin dankbar dafür). „44: Du hast Falten auf den Zehen.“ (Wer sagt das?) „45: Magst du dich, so wie du bist?“ (Die Antwort gibt es im nächsten Lebensjahr)

Hier geht es zu den Geschenktipps 2017.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Chilisoße statt Römersprudel 16 Dec 2018 3:30 AM (6 years ago)

Fabian Rueda macht Trier zur schärfsten Stadt Deutschlands. Fotos: Christian Jöricke

Es herrscht wieder Leben in dem einst beliebten Ausflugslokal „Zum Römersprudel“. Seit November kocht dort Fabian Rueda und sein Team. Hähnchen und Käsebrote gibt es in der früheren Feyener Waldwirtschaft jedoch nicht mehr. In der ehemaligen Gaststätte, die nach einer jahrtausendelang genutzten Wasserquelle benannt wurde, werden Chilisoßen hergestellt.

Vor zweieinhalb Jahren kam Rueda nach Trier. Seine Frau Carola, mit der er zwei Kinder hat, ist Triererin. Der gebürtige Venezolaner, der in Berlin Wirtschaftsingenieurwesen studierte, lebt seit 2004 in Deutschland. Unter dem Namen „Pika Pika Chili Kompositionen“ produziert und vertreibt er gemeinsam mit seinem Landsmann Diego Sposito seit knapp drei Jahren feurige Soßen.

Von der eher milden „Cherry Bomb Chili Currysauce“ bis zur höllisch scharfen „Killer Scorpion Chilisauce“ hat „Pika Pika“ derzeit ein Dutzend flüssiger Würzmittel im Programm. Bisher wurde in verschiedenen, kurzzeitig gepachteten Küchen in Trier und Berlin gekocht. Rueda freut sich, nun eine feste Produktionsstätte gefunden zu haben. „Wir sind damit viel flexibler“, sagt der 38-Jährige. So wird ein ehemaliger Gaststättenraum als Lager genutzt.

Vom Marketing, um das sich seine Partnerin kümmert, bis zur Abfüllung wird bei „Pika Pika“ („Es brennt, es brennt“) alles selbst gemacht. Die Hauptzutat, die Chilis, kommt von zwei Biobauern aus Österreich und den Niederlanden, der Vertrieb läuft vor allem über den eigenen Online-Handel. In Berlin, Hamburg, Leipzig, Saarbrücken, Wiesloch und Trier („Unverpackt“-Laden) sind die Scharfmacher auch im Geschäft erhältlich.

Fabian Rueda lässt Chilis trocknen.
Hier werden Chilis getrocknet.

Zusammen mit Sposito, der demnächst von Berlin nach Trier zieht, hat Rueda auch das Projekt „Die Chili Mafia“ gegründet. „Einer von uns hat kolumbianische und der andere italienische Vorfahren“, erklärt Rueda mit einem Grinsen den Namen. „Wir haben durch ‚Pika Pika‘ viele kleine Hersteller kennengelernt, die mit Chilis arbeiten. Gemeinsam möchten wir nun agieren, Produkte testen und Videos drehen.“ So bieten sie beispielsweise die „Chili Mafia Spezialitäten-Box“ an – gefüllt mit Delikatessen verschiedener Mini-Manufakturen.

Fabian Rueda kam schon früh auf den Geschmack. „Mein Vater hat zuhause immer Chilis gehabt.“ Gewürzt wird nahezu alles mit den verarbeiteten Schoten: „Ich esse nicht viel mit Salz, sondern mit Soße. Chili ist mein Salz.“ Sein Favorit ist die „Waldbeeren-Scorpion Chilisauce“. Und nicht nur seiner: Beim traditionsreichen „Zestfest“ in Texas belegte sie in diesem Jahr in der Sparte „Hot Sauce: Ultra Hot Pepper – Consumer Ready“ den ersten Platz.

In der eigenen Küche kann nun nicht nur noch mehr produziert, sondern auch experimentiert werden. Ein aktuelles Highlight ist die „Karl Marx Hot Sauce“ – eines der schärfsten Produkte im Programm. Eine gute Gelegenheit, sich über das gesamte Angebot zu informieren (und noch Last-Minute-Geschenke zu erwerben), bietet sich beim Probiertag in den neuen Räumen in der Peter-Scholzen-Straße 88 am Samstag, 22. Dezember, von 12 bis 17 Uhr.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Meyer und Marx: Wir sind Marx 28 Oct 2018 9:58 AM (6 years ago)

„Wenn man in der Fußgängerzone statt in die Schaufenster auch mal in den Himmel schaut“, orakelt der Backes Herrmann, „bekommt man das Gefühl, Trier sei eine große Marx-Familie.“ „Wie kommst du denn darauf?“, ist meine unvorsichtige Reaktion, denn schon zieht mich der Herrmann zur Fleischstraße.

Eine der schönsten Aktionen der gesamten Marx-Ausstellung sind sicherlich die Wir-sind-Marx-Fahnen, die seit Mai über der Fußgängerzone wehen. Der Name Marx ist der Meier-Müller-Schulze von Trier. Wenn Sie mal unter www.dasoertliche.de nachsehen, finden Sie allein für den Stadtbereich Trier knapp drei Dutzend Marx-Einträge. Sucht man im Umkreis von 30 Kilometern, kommt man auf etwa 300 Telefonbucheinträge von Menschen, die mit Nachnamen Marx heißen. Versuchen Sie das mal mit Schulze oder Meier, da bleiben Sie zahlenmäßig locker unter Marx (nun ja, das ist ein bisschen geschummelt – nimmt man Meier mit ‚ei‘ kommt man nur auf 112, bei ‚ey‘ allerdings auf 306. Der ‚ey‘-Meyer liegt also etwa gleichauf mit Marx, wobei es letzteren allerdings vereinzelt ja auch noch in der Schreibung „Marks“ gibt. Schulze dagegen schmiert im Vergleich zu Marx völlig ab).

In Trier und Umgebung ist es also nicht weiter schlimm, Marx zu heißen. Wenn man den männlichen Nachwuchs nicht auf Karl taufen lässt, ist namenstechnisch alles im grünen Bereich. Obwohl: Stellen Sie sich vor, Sie kommen zu einem Bewerbungsgespräch zum Beispiel bei einem Hedgefonds-Unternehmen und sagen dort: „Tach, ich bin der Karl Marx aus Trier“. Da wird sich gleich zeigen, ob der Personalchef Humor hat.
Jedenfalls stelle ich dank Herrmann fest, dass ich es in den vergangenen Monaten völlig versäumt habe, mir die 15 Fahnen mit Fotos von Trierern genauer anzusehen, die Marx heißen.

Aufgespannt in unmittelbarer räumlicher Nähe zu Geschäftsketten, von denen sich manche in der Gewinnoptimierung große Verdienste erworben haben, begegnet uns in der Fleisch- und Brotstraße alle paar Meter der Name Marx – und viele sympathische Gesichter dazu. Unter den Bildern der Marx-Bürger stehen Statements, die diese über ihren (und Karls) Namen gemacht haben. Wir bleiben alle paar Meter stehen und lesen sämtliche Bildunterschriften. Diese Marx-Ausstellung war, das kann niemand leugnen, recht belastend für die Wirbelsäule: In manchem Museum musste man sich tief bücken, um die Erläuterungen zu den Exponaten zu lesen, und in der Fußgängerzone müssen wir alle paar Meter den Kopf tüchtig in den Nacken werfen. Aber es lohnt sich. Ich erfahre beispielsweise, dass es offensichtlich verschiedene Linien der Marx-Sippe gibt. Diejenigen, die nicht zum Anwalts-, Verwaltungsbeamten- und Philosophen-Zweig gehören, sondern zum ärmeren der Moselfischer, betonen dies übrigens recht nachdrücklich.

Außerdem erfahren wir einiges darüber, wie es ist, wenn man so einen prominenten Namen nennen beziehungsweise buchstabieren soll: „Marx? Wie Engels?“ ist dabei eine Gegenfrage, die nicht wirklich überrascht. Und offensichtlich kommt gelegentlich auch die Rückfrage, ob man mit „ihm“ verwandt sei (was offensichtlich bei keinem der „Wir-sind-Marx-Familien“ der Fall ist oder zumindest niemand zugibt).

Besonders sympathisch ist uns eine gewisse Petra Marx. Und zwar nicht nur, weil sie von ihrem Banner einnehmend zu uns herunterlächelt, sondern weil sie obendrein auch noch, wie die Bildunterschrift verrät, in der Engelstraße wohnt („Na, dann wünschen wir der Petra Marx aus der Engelsstraße doch“, versucht der Herrmann einen Scherz zu machen, „dass sie auch noch über Kapital verfügt“).

Ich begreife, was der Herrmann mit der „großen Marx-Familie“ meint. Nachdem wir durch die Fleisch- und Brotstraße durch sind, habe ich das Gefühl, dass Marx – nicht nur der Karl, sondern überhaupt der Familienname – zu Trier gehört wie die Porta, der Viez und Kappes Teerdisch.

„Und was geschieht jetzt mit diesen Foto-Fahnen?“, frage ich den Herrmann. „Die werden wohl bald der Weihnachtsdeko weichen müssen.“ Schade eigentlich. Heißt es dann: Wir waren Marx? Trier ist doch immer noch Marx, auch nach der 200-Jahre-Marx-Ausstellung. Wer braucht schon Lichterketten? Weihnachten ist das Fest der Besinnung und der Familie. Lasst die Marx-Familien einfach weiterhin über uns und über der Fleisch- und die Brotstraße wehen!

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Meyer und Marx: Wie Marx die Digitalisierung vorhersah 2 Oct 2018 11:39 PM (6 years ago)

„Und was genau hatte das jetzt mit Marx zu tun?“, fragt einer aus der Besuchergruppe, als wir die Ausstellung verlassen. „Nix“, meint ein anderer, „aber wat willste maachen, et is Marx-Jahr.“ „Und ob das, was wir gerade gesehen haben, einen Bezug zu Marx hat“, widerspricht der Backes Herrmann. „Alles hat immer mit Marx zu tun.“

Wussten Sie, dass es unter der Uni-Mensa ein Museum gibt? Der Backes Herrmann wusste das bis vor kurzem nicht: „Was ist das denn: ,Generator Marx: kapital/digital’? Und vor allem: Wo ist das?“
„Wie, du kennst nicht den ,Generator’ im Keller des ehemaligen französischen Militärhospitals?“, genieße ich es, ausnahmsweise einmal besser über etwas in Trier Bescheid zu wissen als der Herrmann.

Wir also auf den Petrisberg, wo wir zur Führung durch den „Generator“ zum ehemaligen Kohlekeller und Heizkraftwerk hinabsteigen. Das kleine, neugierige Grüppchen, das die Führung mitmacht, begeistert sich zunächst für das Ausstellungsobjekt „Manifesto“. Hier fertigt eine hölzerne Hand, die von einem Kohlestift durchbohrt ist und sich deutlich sichtbar an der Wand entlang bewegt, eine Zeichnung an. Nachgezeichnet werden Bewegungen von Börsenmärkten, indem aktuelle Handelsdaten direkt an die Geisterhand gesendet werden. Die Hand überträgt diese Daten in die Zeichnung an der Wand. Normalerweise werden Börsenwerte vertikal als Auf und Ab dargestellt. Hier aber werden sie auf der Fläche abgebildet, was das Chaos der Aktienbewegungen verdeutlicht.

„Wie das Eiskalte Händchen bei der Adams Family“, kommentiert eine Frau aus der Gruppe (verdammt, dasselbe habe ich auch gedacht). „Aus welchem Material ist denn die Hand? Welches Holz genau? Und was passiert, wenn Sie einfach mal den Magnet auf der anderen Seite der Hand abmachen, denn so funktioniert das doch wohl?“

So liebe ich die Trierer: Immer praktisch, immer emotional und assoziativ, auch wenn es sich um Kunst handelt.

Als nächstes bewundern wir das Ausstellungsobjekt „Der Spiegel der Distribution“. Hier visualisieren ein echter und drei digitale Spiegel den Wandel von der Waren- zur Datenökonomie. Wir werden digital 3D-vermessen und ein unsichtbarer Computer sagt uns innerhalb von Sekunden unser Geschlecht, unsere Körpergröße und unser Alter und verrät weitere biometrische Daten. Beim Alter lässt sich der Computer übrigens um ein oder zwei Jahre herunterhandeln, wenn man statt allzu grimmig dreinzuschauen freundlich lächelt.

„Wie konnte denn Marx die Digitalisierung voraussehen?“, fragt einer aus der Gruppe. „Gar nicht“, antwortet unser Führer weise. „Aber recht hatte er trotzdem.“ Der Kunststudent, der die Führung macht, erklärt, dass das Kunstwerk zeigt, dass so wie früher in der Realwirtschaft Arbeiter für niedrigsten Lohn ihre Arbeitskraft bereitstellten, wir jetzt unsere Daten hergeben. Und das sogar kostenlos, damit große Datenkonzerne mit der Auswertung und dem Verkauf der Daten Milliarden verdienen.

Uns bleibt nichts anderes übrig, als anerkennend zu nicken: Unser Karl hat das alles schon kommen sehen. Das Prinzip der Ausbeutung, egal ob bei der Produktherstellung oder was danach noch kommt, hat er genau erfasst.

Auch die Ausstellungsbereiche „Digitale Ökonomie“ und „bibliotheca digitalis“ bringen Überraschungs- und Erkenntniseffekte. Und schweißen unsere Gruppe enger zusammen: „Eh, dau lo“, fordert einer der Besucher den Herrmann auf. „Hall dau dein Hand mol zwischen die Scheib lo unn die Leinwand.“

Einer von uns sitzt als Freiwilliger an einem Lesepult mit einer Glasscheibe und einer Leinwand davor und schlägt eines der dort liegenden fünf Exemplare (in fünf verschiedenen Sprachen) des „Kommunistischen Manifests“ auf. Da nur einer am Lesepult sitzen kann, schart sich die restliche Gruppe so nah um ihn, dass es zum kollektiven Kuscheln kommt. Das aufgeschlagene Manifest hat lauter leere Seiten („Da hat jemand die inhaltliche Aussage des Manifests aufs Wesentliche reduziert“, witzelt jemand), aber auf der Leinwand, die sich gegenüber des Lesepults befindet, kann man den Text lesen. Deshalb wird der Herrmann zwischen Pult und Leinwand geschickt, um festzustellen, ob er selbst dort noch zu sehen ist, und ob kommunistische Theorien auf seinen Körper projiziert werden. Ergebnis: Der Herrmann ist nicht virtuell, wohl aber der Text des Manifests.

„Der gleiche visuelle Effekt“, meint der Freiwillige am Lesepult, „wäre auch mit dem Trierer Telefonbuch erzielt worden.“

„Stimmt“, sagt der Kunststudent, der uns immer sympathischer wird. „Aber es ist Marx-Jahr, und da kommen deutlich mehr Leute, wenn man mit einer Spezial-Software und dieser elektronischen Zauberscheibe das Manifest nimmt, um die Digitalisierung von Texten zu demonstrieren.“ Dem stimmen wir zu und sehen abschließend den Höhepunkt der Ausstellung, die „Kathedrale des Kommunismus“: ein Klang-Dom im großen Heizungskeller. 16 Chorstimmen dringen aus Lautsprechern und singen in Stockhausenscher Manier Zitate aus Marx’ Schriften. Wir dürfen frei im riesigen Heizungskeller herumlaufen, und nach zehn Minuten fühlt man sich tatsächlich, als ob man eine gotische Kathedrale besichtigt (in der nur die Notbeleuchtung angeschaltet ist). Unsichtbar probt irgendwo der Chor. „Wirklich schön“, zeigt sich eine Ausstellungsbesucherin beeindruckt, nachdem der sphärische Gesang verklungen ist. „Ja“, meint eine anderer. „Ist aber auch schön, wenn es dann vorbei ist.“

„Leute!“, fasst der Herrmann zusammen. „Ist es nicht faszinierend, dass das Manifest, wie hier inszeniert, genau so wirkt, wie … eine Predigt, wie …“ – „ … Opium fürs Volk?“ beendet jemand aus unserer Gruppe Herrmanns Satz.

Immerhin das hat „generator-marx“ erreicht: Als wir die Ausstellung verlassen, können wir nicht anders, als aufgeregt zu diskutieren, dass Marx’ Theorien zum Kapitalismus sich auch auf die Digitalisierung anwenden lassen. „Siehste“, meint der Herrmann zu mir. „Unser Karl hat schon immer gewusst, wie alles kommen wird.“

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

„Streit ist nicht der Untergang des Abendlandes“ 10 Sep 2018 9:53 PM (6 years ago)

Foto: Michael Herdlein
Foto: Michael Herdlein

Der „Spiegel“-Kolumnist und Bundesrichter a. D. Professor Dr. Thomas Fischer spricht im 16 VOR-Interview über Meinungsfreiheit, politische Kultur und den „biodeutschen Obergutmenschen“ Björn Höcke. Um diese Themen geht es auch in seinem Vortrag am Samstag um 20 Uhr in der Tufa.

16 VOR: Herr Fischer, Sie sind vor allem durch ihre Kolumne „Fischer im Recht“ in der „Zeit“ einem breiteren Publikum bekannt geworden. „Fischer im Recht“ hat für die interessierte Leserschaft oft überraschende Einblicke in das Strafrecht geliefert. In Ihrer neuen Kolumne für „Meedia“ betätigen Sie sich nun als Medienkritiker. Wie kam es zu diesem Themenwechsel?

Thomas Fischer: Ich möchte das ein wenig korrigieren: Ich schreibe nicht nur für „Meedia“, sondern auch für „Spiegel online“ und dort ebenfalls eine zweiwöchige Kolumne, die an die Tradition der „Zeit“-Kolumne anknüpft. Die „Meedia“-Kolumne „Fischers kleine Presseschau“ beschäftigt sich vor allem mit dem, wofür „Meedia“ als Branchendienst steht: mit den Medien. Ich versuche hier, einen Blick aus juristischer Perspektive auf das Feld zu werfen.

16 VOR: Sie haben die Zusammenarbeit mit der „Zeit“ beendet, weil sie eine Ihrer Kolumnen nicht drucken wollte. Die Wochenzeitung hatte über Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel berichtet, und Sie wiederum haben ihr eine Vorverurteilung des Mannes vorgeworfen. Sie haben Ihren Text daraufhin „Meedia“ angeboten – war das die Geburtsstunde des Thomas Fischer als Medienkritiker?

Fischer: Nein, das hat damit eigentlich wenig zu tun. Zunächst: Ich habe die Mitarbeit bei der „Zeit“ nicht beendet. Beendet hatte ich im Frühjahr 2017 die Kolumne „Fischer im Recht“, weil ich nach zweieinhalb Jahren wöchentlicher Kolumne den Eindruck hatte, es sei genug. Ich habe dann aber weiter für die gedruckte Ausgabe und „Zeit Online“ geschrieben. Die Zusammenarbeit ist im Januar 2018 von der „Zeit“ wort- und erklärungslos aufgekündigt worden, weil ich die Redaktion wegen ihrer Berichterstattung über den „Fall Wedel“ kritisiert habe. Ich hatte einen Text über diese Berichterstattung der „Zeit“ angeboten, den sie nicht drucken wollte. Das ist ihr gutes Recht! Aber natürlich ist es auch mein gutes Recht, diesen Text dann einem anderen Medium anzubieten. Ich bin ja freier Schriftsteller und nicht Angestellter des Verlags. Das hat die „Zeit“ als eine Art „Verrat“ angesehen und nicht akzeptiert.

Ich fand, dass die Artikelserie der „Zeit“ zum „Fall Wedel“ über die Grenzen der Verdachtsberichterstattung deutlich hinausgegangen ist, von eifernder Verfolgungsanmaßung und unangemessener Vorverurteilung durchzogen war. Das sieht die „Zeit“ natürlich anders. Sie ist für ihre „Wedel“-Serie später mit einem Preis für angeblich „beispielhafte Verdachtsberichterstattung“ geehrt worden … nun ja – Schnee von gestern!

16 VOR: Warum dann ausgerechnet Medienkritik?

Fischer: Die Beschäftigung mit Pressemedien halte ich für extrem wichtig. Die Presse ist die einzige Möglichkeit, wie sich Menschen über Vorgänge in der Gesellschaft informieren können – insbesondere auch über rechtliche Vorgänge, Fragen und Probleme. Die Information über und Diskussion von rechtlichen und rechtspolitischen Themen ist von außerordentlicher Bedeutung. Sie findet nach meinem Dafürhalten nicht immer in der gebotenen Tiefe und Ernsthaftigkeit statt. Ich möchte mit meinen Mitteln und Möglichkeiten einen Beitrag leisten.

Die, die ,Lügenpresse‘ schreien, halten alles, was nicht ihren Vorurteilen entspricht, für ,gelogen‘.“

16 VOR: Also eine qualifizierte Medienkritik als Gegengift zur Medienkritik von der Straße, die sich unter dem Stichwort „Lügenpresse“ äußert?

Fischer: Diese Art von Medienkritik ist überwiegend schlichter Unsinn. Sie ist pauschal, inhaltlich falsch und in der Zielrichtung völlig unklar. Mit „Lüge“ ist da ja meist gar nicht eine bestimmte Unwahrheit gemeint, sondern nur eine andere Ansicht: Die, die „Lügenpresse“ schreien, halten alles, was nicht ihren Vorurteilen entspricht, für „gelogen“ – das ist natürlich abwegig. Dem zu widersprechen ist schwierig. Menschen, die fest entschlossen sind, an Verschwörungen zu glauben, und denken, alles werde von einer „Systempresse“ und diese von „den Systemparteien“ kontrolliert, die kann man kaum überzeugen. Insofern soll das, was ich schreibe, tatsächlich ein Gegenmodell sein. Es interessiert mich allerdings nicht im Detail, welche Gruppe da jetzt wieder über was und warum „Lügenpresse“ schreit. Ich meine, dass die professionelle Presse die Aufgabe hat, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen und die Menschen sachlich und in guter Qualität zu unterrichten. Man muss nicht endlos mit Leuten diskutieren, die gar nicht argumentieren, sondern nur ihren angeblichen Feinden das Maul stopfen wollen.

Im Bereich der Presse-Berichterstattung über rechtliche Fragen gibt es viele sehr gute Beispiele, aber durchaus auch einiges zu verbessern und gelegentlich zu kritisieren: Im Gegensatz zur Berichterstattung über andere Wissensgebiete und Lebensbereiche ist für die Berichterstattung über Rechtliches nach Ansicht vieler Redaktionen oft keine besondere Qualifikation erforderlich. Das täuscht.

16 VOR: In ihrem Vortrag in Trier wird es um das Thema „Strafrecht und politische Kultur“ gehen.
Nun steht es um die politische Kultur in Deutschland momentan nicht zum Besten: In Chemnitz ist die größte Oppositionspartei des Landes zusammen mit Pegida und anderen Rechtsradikalen marschiert, und das liberale Bürgertum schickt statt dem Staatsanwalt die „Toten Hosen“. Muss man also mit Rechten reden oder sind nationale Sozialisten wie Höcke, Poggenburg und Co. ein Fall für Verfassungsschutz und Polizei?

Fischer: Sowohl als auch. Man muss mit jedem reden, mit dem noch zu reden ist – mit Gewalttätern geht das oft nicht mehr. Wir neigen allerdings im Moment dazu, das alles wie den Anfang vom Untergang des Abendlandes zu betrachten. So wird etwa der Begriff der „Spaltung“ in der Presse inflationär gebraucht: Die Gesellschaft ist gespalten, die Meinungen sind gespalten und so weiter, und „Streit“ erscheint wie das Gegenteil demokratischer Kultur. Man muss sich aber fragen, ob das alles so neu ist und ob die „Spaltung“ immer so furchtbar ist. Ich erinnere mich an viele, sehr intensive politische Debatten und Streite in den letzten Jahrzehnten, zum Beispiel die Ostverträge, die Debatte um die Atomindustrie, den Streit um die sogenannte Nachrüstung. Auch da wurde äußerst kontrovers diskutiert. Das ist ja an sich nichts Schlechtes. Wenn sich zwei Meinungen diametral gegenüberstehen, geht noch nicht das Projekt der Moderne dem Ende entgegen. Bedenklich und gefährlich sind aber Tendenzen, die auf eine gewaltsame Unterdrückung kontroverser Diskussion insgesamt abzielen. In dem völkischen Staat, den Höcke, Gauland und Bachmann anstreben, hätten die sprichwörtlich „besorgten Bürger“, die heute noch klatschend dastehen, wenn es Fremden an den Kragen geht, nichts mehr zu lachen und zu melden.

„‚Soziale Netzwerke‘ steuern Emotions- und Empörungswellen und manipulieren in erheblichem Maß die öffentliche Kommunikation.“

16 VOR: Soziale Medien spielen bei der Verbreitung von Hass, von Verschwörungstheorien und von „Fake News“ eine wichtige Rolle. Mit dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ gab es den Versuch, das rechtlich einzuhegen. Ist das ein vernünftiges Instrument? Kann man überhaupt international agierende Plattformen mit einer nationalen Gesetzgebung in den Griff bekommen?

Fischer: Der Begriff „soziales Netzwerk“ ist ja eigentlich ein merkwürdiger Euphemismus: das Wort „sozial“ erscheint einem hier ja schon eher satirisch. Allerdings hat sich die gesellschaftliche Kommunikation natürlich in den letzten zwei Jahrzehnten extrem gewandelt. Diesen Wandel kann man fast nur mit den Folgen der Erfindung des Buchdrucks vergleichen. Welche Strukturen da nun neu entstehen, kann man noch gar nicht wirklich abschätzen. Ich für meinen Teil halte von den „sozialen Medien“ gar nichts und nutze sie nicht. Das permanente Geschwätz aller über sich selbst ist mir ein Gräuel. Aber für viele Menschen sind diese Medien eine wichtige, oft sogar die wichtigste Informationsquelle geworden. Sie steuern Emotions- und Empörungswellen und manipulieren in erheblichem Maß die öffentliche Kommunikation.

16 VOR: Sehen Sie denn juristischen Handlungsbedarf in Bezug auf die „sozialen Medien“?

Fischer: Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist ja umstritten. Zum einen weil man damit angeblich Zensur ausübe – eine Behauptung, die ich für nicht sehr überzeugend halte. Straftaten müssen auch im Internet verfolgt und sanktioniert werden. Zum anderen ist das Gesetz in der Kritik, weil es die Verantwortung für Sanktionen in den privaten Bereich verschiebt. Diese Verschiebung halte ich für nicht angemessen. Aus Sicht des Staates mag es einfach sein, privaten Unternehmen die Bewertungen und Löschungen von Inhalten aufzubürden. Ich denke aber, dass das die Aufgabe des Staates ist. Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ ist ein Anfang, von einer überzeugenden Lösung sind wir aber weit entfernt.

16 VOR: In ihrem Vortag wird es auch um das Thema Meinungsfreiheit gehen. In letzter Zeit kommt da immer wieder die Behauptung auf, die „Political Correctness“ würde die Meinungsfreiheit beschneiden und „Meinungskorridore“ vorgeben. Auf der anderen Seite steht die Analyse, dass der Begriff „Political Correctness“ vor allem als Kampfbegriff gebraucht wird, um ein Mindestmaß an zivilisatorischem Anstand in einer öffentlichen Debatte zu denunzieren. Wie sehen Sie das?

Fischer: Der Begriff ist mittlerweile ausgeufert und hat keine vernünftige kommunikative Funktion mehr. Man kann ihn zur Beschreibung von etwas Positiven ebenso benutzen wie zur Beschreibung einer albernen Moralindurchtränktheit. Ein bisschen so, wie der Begriff des „Gutmenschen“, der ursprünglich ironisch, aber nicht dezidiert abwertend gegen besonders moral-geprägt argumentierende Menschen gerichtet war. Inzwischen wird der Begriff jedem entgegengebrüllt, der versucht, etwas Vernünftiges zu sagen. „Gutmensch“ zu sein, gilt den Freunden des Draufschlagens und Durchgreifens als Inbegriff lächerlicher Lebensfremdheit. Aber natürlich nur, solange sie selbst die Maßstäbe bestimmen. Am nächsten Tag marschiert Herr Höcke dann mit weißer Nelke und Kerzlein durch Chemnitz und spielt den biodeutschen Obergutmenschen.

Es gibt in der öffentlichen Kommunikation keine vorgegebenen Sprachwege oder „Meinungskorridore“. Aber natürlich gibt es politische Versuche, Kommunikation zu lenken und in eine bestimmte Richtung zu verschieben. Denken Sie nur an den Begriff „DDR“, der früher in Westdeutschland verpönt war. Man musste bis in die 70er Jahre immer „sogenannte DDR“ sagen, um sich nicht verdächtig zu machen. Und wenn man „BRD“ sagte, dann wurde einem vorgehalten, das sei ein „kommunistisches Kürzel“. Diese ideologischen, sprachlichen Scheuklappen gab es also schon immer – in unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen und Gruppen. Sprachkontrolle dient dazu, Freunde und Feinde schematisch zu unterscheiden. Die Tendenz hat sich unter dem Einfluss der amerikanischen Medienkultur verstärkt. Aber ein Teil des albernen Zustands besteht eben auch darin, dass jeder sich zu beliebiger Zeit zum Opfer einer angeblichen Beschränkung seiner Meinungsfreiheit erklärt und daraus die Forderung ableitet, die jeweils anderen sollten am Reden gehindert werden.

Wir haben eine rechtlich halbwegs abgesicherte Sprachkultur: Man darf nicht verleumden, man darf nicht übel nachreden, man darf nicht beleidigen, man darf nicht volksverhetzen und nicht zu Straftaten aufrufen – das sollte eigentlich ausreichen. Eine Verpflichtung, in jedem Satz stets durch Verwendung von Codewörtern ein möglichst lobenswertes gesellschaftspolitisches Programm zu präsentieren, erscheint mir etwas hysterisch.

Hier finden Sie Bücher von Thomas Fischer.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?

Meyer und Marx: Junge, komm bald wieder 8 Sep 2018 2:15 AM (6 years ago)

„Woran erkennt man, dass jemand gerade in der Marx-Ausstellung im Landesmuseum war?“ Schon an der Art, wie der Backes Herrmann das fragt, wird klar, dass er sticheln will: „Am gebeugten Oberkörper und den zusammengekniffenen Augen.“

Dem Herrmann war aufgefallen, dass die Marx-Ausstellung in gut sechs Wochen vorbei ist und wir einiges davon noch nicht gesehen haben. Wir also ab ins Landesmuseum, wo Marx’ Schriften und Ideen im Mittelpunkt stehen. Das „Manifest“ und das „Kapital“ gehören immerhin zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Einige der Ausstellungsräume überraschen uns äußerst positiv. Zum Beispiel der „Vermehrungssaal“ – ein vollverspiegelter Raum, in dem auf den Spiegelflächen lediglich das Wort „KAPITAL“ (in verschiedenen Schreibweisen) steht. Ansonsten sieht man nur: sich selbst, aber das gleich vielfach und aus verschiedenen Perspektiven. Hier werden wir vermehrt wie der Zaster eines Großindustriellen. Statt es bei dieser optischen Metapher bewenden zu lassen, begehen etliche Museumsbesucher den Fehler, sich vielfach und von allen Seiten gleichzeitig fotografieren zu wollen. Nun besteht der durchschnittliche Museumsgänger in der Regel nicht aus einer 360-Grad-Rundum-Schokoladenseite. Also werden Jacken über Hinterteile gezubbelt, Bäuche in Profilansichten eingezogen, und man hört Kommentare wie: „Ich wusste gar nicht, wie bescheuert ich von schräg hinten links in dieser Hose aussehe …“.

„Tja“, meint der Herrmann. „Mit dem vielfach vermehrten Körper ist es wie mit dem Kapital: Wenn man von allen Seiten genau draufschaut, findet sich immer etwas, das nicht astrein ist.“

Ein Museumsangestellter erzählt uns, dass einige Tage zuvor eine Gruppe junger Männer im „Vermehrungssaal“ spontan eine Aktion zum Besten gab, bei der sie ihre Geldbörsen in der Raummitte ablegte, einen wilden Reigen drum herum tanzte und dabei „Geld und Kapital, vermehre dich!“ rief. Danach schauten die Mitwirkenden in ihre Geldbeutel und meinten mit gespielter Enttäuschung: „Schade, hat nicht funktioniert“. Mal abgesehen davon, dass die Jungs in der Marxschen Terminologie offensichtlich nicht ganz sattelfest waren, und dass sie das Zeug – was immer es gewesen sein mochte –, besser erst nach dem Museumsbesuch geraucht hätten, spiegelte diese ausstellungsinteraktive Vorstellung genau den Geist wider, den man ins Landesmuseum mitbringen sollte.

Apropos Geist: Ein Gespenst geht um im Landesmuseum. Ich war mal in einer englischen Dorfkneipe, durch die ab Mitternacht angeblich ein Kopf schweben soll (ich habe vergessen, wem dieser Kopf bei welcher Gelegenheit verlorenging). Ein Kopf schwebt auch im Landesmuseum, nämlich der von Marx. Wenn auch nur eine Handbreit über einem Podest, an das man als Museumsbesucher nicht nah genug herankommt, um mal dazwischenzufassen. Man will ja vielleicht überprüfen, ob der Marx-Kopf tatsächlich schwebt, oder ob man lediglich einer optischen Täuschung aufsitzt (es ist ja grundsätzlich an allem zu zweifeln). Aber nein: Keine Täuschung, der Kopf schwebt. Und nicht nur das, er dreht sich dabei auch noch drohend hin und her, was das Spukhafte wunderbar unterstreicht. Leider erklärt mir ein freundlicher Museumsangestellter, wie das mit den verschiedenen Magneten im Marx-Kopf technisch funktioniert, und schon ist das Gespenst entzaubert.

Am längsten halten der Herrmann und ich uns bei der Marx-Maschine auf. Hier bilde ich mir ein, dass es nach Maschinenöl riecht, und ich höre (was keine Einbildung ist) die von Hannes Wader gesungene „Internationale“. Keine Bange: Hannes sitzt nicht irgendwo singend in der Raumecke. Die Live-Aufnahme des Arbeiterlieder-Konzertes von 1977, als die Aufteilung der Welt in Kommunisten und Kapitalisten noch in Ordnung war, dringt aus Lautsprecherboxen.

Im Marx-Maschinenraum läuft ein Fließband-Ensemble, das nicht Rohstoffe oder Waren transportiert, sondern Begriffe: „Arbeitskraft“, „Ware“, „Geld“, „Lohn“, „Kapital“. Was diese Maschine befördert, ist ein besseres Verständnis von kapitalistischen Produktionsprozessen. Schon allein deswegen sollte man diese Ausstellung gesehen haben.

Apropos sehen: Wenn man die Erklärungen zu den Exponaten sehen und lesen will, und das wollen wir, muss man entweder in die Knie gehen oder sich weit nach vorne beugen. Denn die meisten Erläuterungsschildchen sind, wenn man den Herrmann als Maßstab nimmt, auf Bauchnabelhöhe angebracht (gefühlt auf Kniescheibenhöhe). Und die Schriftgröße, meint der Herrmann, sei dieselbe wie die Zusatzklauseln Seite 9 unten bei seiner Lebensversicherungspolice.

Ja, schon klar: Die Anbringung der Erläuterungstexte ist absolut rollstuhlfahrergerecht. Aber was ist mit dem leicht übergewichtigen, 1,85 Meter großen, Gleitsichtbrille tragenden Mittfünfziger? Nun, der muss sich eben tief nach unten beugen und die Augen zusammenkneifen oder die Brille auf der Nase in den richtigen Gleitsichtbereich schieben. Vielleicht ist dieser Effekt ja gewollt, denn so zwingt uns das Landesmuseum auf dem Rundgang durch die Ausstellung immer wieder zur Verbeugung vor Marx oder zumindest vor dessen Werk.

Zum Glück vergisst der Herrmann dieses eher nebensächliche Ärgernis rasch, als er sich die eindrucksvollen Modelle von Deformationen und Erkrankungen ansieht, die Gifte auslösen, denen Arbeiter im Produktionsprozess ausgesetzt sind. Seine persönlichen Favoriten sind die Kohlenstaublunge sowie das Bleisaum-Zahnfleisch, das den Herrmann angeblich an das Lächeln seiner Tante Hertha aus Püttlingen erinnert.

Zum Abschluss halten wir uns noch mit viel Entdeckerlust bei den roten Kommentarzetteln auf, die die Besucher an Wandhäkchen hinterlassen können. Wir küren unsere persönlichen Lieblingssprüche dieser Kommentarwand. Ich versuche, philosophisch rüberzukommen, indem ich mich für „Es gibt keinen Kapitalismus mit menschlichen Antlitz“ entscheide. Der Herrmann aber findet am besten: „Junge, komm bald wieder.“

Wir jedenfalls kommen wieder – die Ausstellung ist so vielseitig, dass wir sie glatt nochmal sehen wollen. Nur besorgen wir uns vorher einen Klappstuhl und eine Leselupe.

Add post to Blinklist Add post to Blogmarks Add post to del.icio.us Digg this! Add post to My Web 2.0 Add post to Newsvine Add post to Reddit Add post to Simpy Who's linking to this post?